(Ent-)Spannungsbasiertes Arbeiten

Seit einiger Zeit experimentieren wir mit dem so genannten "spannungsbasierten Arbeiten", das aus dem von Brian Robertson entwickelten Unternehmenssystem Holacracy® bekannt ist. Ich schätze es als Methode, bei der die Wahrnehmungsfähigkeit aller Menschen in einer Organisation genutzt wird, um positive Veränderung zu bewirken.

Inhalt:

  1. Vom bewussten Umgang mit (Ver-)Spannungen
  2. Der Begriff "Spannung" löst Spannung aus
  3. Zentraler Spannungsspeicher
  4. Awareness ist der Schlüssel
  5. Spannungen prozessieren
  6. Entspannt feiern

Was ist mit Spannung gemeint? Spannung entsteht, wenn sich eine Lücke zwischen dem Zustand jetzt und einem erwünschten Zustand in der Zukunft auftut. Spannung ist also die Kraft, die uns in eine bestimmte Zukunft lenkt. Ohne Spannung kann es keine Entwicklung geben. Spannungen können Ideen, Wünsche, Optimierungspotenziale, Anregungen, Probleme und Konflikte sein.

Wie sich diese Definition auf unseren Unternehmensalltag anwenden lässt, zeigen die folgenden, fiktiven Beispiele:

  • Beispiel für Spannung in Form eines Problems: Stellen wir uns vor, die Website eines Kunden wäre gehackt worden. In diesem Gedankenspiel stellt sich heraus, dass es eine Sicherheitslücke in der Open-Source-Software gab, weil das Update nicht rechtzeitig eingespielt wurde. Eine Spannung entsteht zwischen dem, was ist (Website gehackt), und dem, was sein sollte (Website ist sicher). Wir würden in diesem Fall ableiten, dass wir eine feste Rolle brauchen, die sich um Website-Updates kümmert, während eine weitere Rolle dem Kunden verständlich machen müsste, dass Website-Updates wichtig für die Sicherheit sind und wir deshalb ein Budget für diese brauchen. In diesem Gedankenspiel wären wir in Zukunft schneller einsatzfähig, sollte es erneut zu einem ähnlichen Problem kommen. Vor allem aber könnten wir das aus der Spannung resultierende Wissen nutzen, um solchen Fällen ab diesem Zeitpunkt vorzubeugen.
  • Beispiel für Spannung in Form einer Idee: Ich habe eine Idee, wie wir unsere Angebote optimieren können, um den Mehrwert, den wir unseren Kund*innen bieten, besser zu verdeutlichen. Wenn ich dem Team von der Idee erzähle, skizziere ich eine mögliche Zukunft, die von der Gegenwart abweicht. Es entsteht eine Lücke, die eine Spannung erzeugt. Das Team stimmt mit mir überein, dass die skizzierte Zukunft besser ist. Gemeinsam arbeiten wir am Angebot, bis die Lücke geschlossen und die Spannung gelöst ist.

Um mir das Konzept des spannungsbasierten Arbeitens besser vorstellen zu können, denke ich oft ans Klettern. Ich stehe unten, vor der hohen Wand und wünsche mir, oben zu sein – sozusagen eine Lücke, die ich überwinden muss. Ich suche eine Stelle am Felsen, an der ich mich gut halten kann, greife die Stelle und ziehe mich nach oben. Spannung entsteht im Körper. Und so ziehe ich mich Schritt für Schritt zum Ziel.

Bei der Einführung kam im Team die Spannung auf, dass der Begriff "Spannung" negativ behaftet sei und ein anderer Begriff vielleicht hilfreicher wäre: Spannungen sollen auf einmal neutral oder gar positiv sein? Das passt nicht zu dem mentalen Modell, das wir in unseren Köpfen geformt haben. Dort ist Spannung etwas Unangenehmes, das wir schnell loswerden oder gar vermeiden wollen.

Eine Lücke tut sich auf zwischen dem, was ist (Spannung ist etwas Negatives), und dem, was sein könnte (Spannung ist etwas Positives). Ein mentales Modell zu aktualisieren, kostet Energie. Unser Bewusstsein mag es nicht, wenn eine Lücke zwischen dem mentalen Modell und der Realität entsteht. Daher spüren wir die Spannung.

Ich habe lange darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass es besser ist, den Begriff neu zu definieren, sprich, das mentale Modell zu aktualisieren, als den Begriff auszutauschen.

Wenn ich eine Spannung spüre, mag das erst einmal unangenehm sein. Ich kann aber die Energie, die dabei entsteht, für eine Veränderung zum Positiven nutzen. Ich verstehe Spannung also einfach als Energie, die entladen werden will. Dies ist erst einmal neutral. Durch spannungsbasiertes Arbeiten ermöglichen wir eine kontrollierte Entladung und nutzen die Energie, um positive Veränderung zu bewirken.

Das ist ähnlich wie mit Fehlern. Wir haben lang in der Schule gelernt, dass Fehler schlecht sind und wir sie möglichst vermeiden sollen, weil wir sonst bestraft werden. Ein jahrelanges Entlernen ist erforderlich, um zu begreifen, dass wir durch das Fehlermachen lernen. Deshalb ist einer unserer Werte auch "Learn to Fail". Vielleicht brauchen wir einen neuen Core Value, der "Embrace Tension" heißt.

Spannungen können selten sofort verarbeitet werden. Daher ist es wichtig, einen Ort zu haben, an dem sie festgehalten werden können. Wir nutzen Notion, um unsere Spannungen zu dokumentieren. Die Spannung wahrzunehmen und aufzuschreiben ist der erste Schritt, die Spannung sichtbar zu machen.

Screenshot Spannungen sichtbar machen
Unser Awareness Center, in dem wir Spannungen festhalten

Bevor wir den Begriff "Spannungen" einführten, nutzten wir oft den Ausdruck "Awareness-Thema". Wir haben deshalb die Tabelle, in der wir unsere Spannungen speichern, "Awareness Center" getauft. Das ist besser, als einfach nur eine Tabelle mit dem Namen "Spannungen" einzuführen, denn Spannungen brauchen Awareness und wenn wir sie aufschreiben, bekommen sie genau das - Aufmerksamkeit.

Mein Kollege Karl meinte, "Awareness Center" erinnere ihn an "Wellness Center". Und genau wie ich ins Wellness Center gehe, um meine Spannungen im Körper loszuwerden, so gehe ich ins Awareness Center, um meine Spannungen bei der Arbeit zu behandeln.

Die Awareness ist der Schlüssel. Denn oft ist es so, dass Bedürfnisse bzw. daraus resultierende Spannungen erst einmal gesehen werden wollen.

Vor einer Weile hatten wir den Fall, dass ein langjähriger Kunde die Beziehung zu uns kündigte. Da gab es offenbar Spannungen, die nicht zur Sprache kamen und nicht rechtzeitig verarbeitet wurden. Ein internes Krisengespräch wurde einberufen. Wir hatten keinen Moderierenden für das Meeting bestimmt und so kam es zu einem unproduktiven Meinungsaustausch, ja fast schon zu einer Explosion. Hinter jeder Explosion steckt eine enorme Energie. Mit meinem Wissen zu spannungsbasiertem Arbeiten habe ich dann versucht, jede einzelne Spannung rauszuhören und sichtbar zu machen. Das Gespräch entspannte sich und wir konnten die daraus resultierenden Punkte Schritt für Schritt verarbeiten.

Es ist wichtig, eine Spannung nach der anderen zu bearbeiten und jeder Spannung ausreichend Raum zu geben. Die Person, welche die Spannung spürt, erhält die volle Aufmerksamkeit. Es ist außerdem wichtig, darauf zu achten, dass wir dabei nicht eigene Spannungen mit einbringen und von der ursprünglichen Spannung ablenken. Wir bleiben ganz bei der Person und der Spannung, die sie wahrnimmt. Das wird auch häufig als "Holding Space" im New Work bezeichnet.

In dieser konzentrierten Aufmerksamkeit kommt auch eine Wertschätzung zum Ausdruck. Jede Spannung ist wertvoll. Wenn ich sie anspreche, möchte ich gehört werden. Echte Aufmerksamkeit im geschützten Raum zu erfahren, kann sehr wohltuend sein.

Bevor eine Spannung verarbeitet werden kann, muss bewusst werden, dass Spannungen immer auf eine bestimmte Weise und nur von Menschen wahrgenommen werden können. Denn sie werden gefühlt, nicht erdacht. Was uns auf Spannungen aufmerksam macht, ist oftmals nur ein Bauchgefühl.

Ist die Bedeutung angenommen, kann der spannungslösende Prozess beginnen. Dieser wird von der Person losgelöst, die die Spannung wahrnimmt und sie vor den anderen Teammitgliedern anspricht. Eine erste Runde mit Verständnisfragen kann den am Prozess Beteiligten helfen, die Spannung besser zu verstehen.

Wichtig ist auch die Unterscheidung, ob die Spannung in einer Rolle wahrgenommen wird, oder sich auf die Person selbst bezieht. In der Rolle geht es um operatives, in der Person um zwischenmenschliches. Die vortragende Person spricht, wenn möglich, aus der Rolle heraus: "In der Rolle als Product Owner …".  Geht es um zwischenmenschliches, braucht es meistens ein klärendes Gespräch.

Um operative Spannungen zu verarbeiten, haben wir in unserem Awareness Center verschiedene Behandlungsoptionen im Angebot.

Eine neutrale, vermittelnde Person fragt: "Was brauchst du?"

Die Person, die die Rolle des Contributors einnimmt, antwortet:

  • Ich brauche Advice.
  • Ich brauche Informationen.
  • Ich möchte Informationen teilen.
  • Ich brauche ein Arbeitsergebnis.
  • Ich möchte unsere Struktur weiterentwickeln.

a. Ich brauche Advice

Manchmal ist noch nicht klar, wie die Spannung am besten gelöst werden kann. Dann ist eine Runde mit Vorschlägen hilfreich. Der Advice ist auch für unseren Advice-Prozess wichtig: Ich möchte eine Entscheidung treffen und brauche Rat von all denjenigen, die von meiner Entscheidung betroffen sind.

b. Ich brauche Informationen

Ich brauche schlicht Informationen, um meine Spannung überwinden zu können. Beispielsweise benötige ich bestimmte Daten, deren Dokumentationsort ich nicht kenne. Jemand aus dem Team wird mir helfen können, die Daten zu finden.

c. Ich möchte Informationen teilen

Hier brauche ich Aufmerksamkeit und möchte sicher sein, dass die Information gehört wird.

Beispiel: "Hey, hört mal alle her, ich habe bemerkt, dass der Name "Spannungen" für unseren Spannungsspeicher nicht so gut funktioniert und habe deshalb in Notion unsere Tabelle mit Spannungen in "Awareness Center" umbenannt. Ihr findet die Tabelle nun unter diesem Namen."

d. Ich brauche ein Arbeitsergebnis

Das ist eine Anfrage an eine andere Rolle oder einen Circle. Die Anfrage ist nur möglich, wenn es dafür bereits eine dokumentierte Verantwortlichkeit inklusive Rolle gibt. Ich brauche das Ergebnis einer Aufgabe oder eines Projekts.

Beispiel: "Ich habe eine Idee, wie wir neue Leads generieren können und wende mich damit an den Marketing Circle, der für die Leadgenerierung zuständig ist."

e. Ich möchte unsere Struktur weiterentwickeln

Mit Struktur sind Rollen und Circles gemeint, inklusive der dazugehörigen Policies und Accountabilities (Erwartungen, die ich an die Rolle bzw. den Circle stellen kann). Weil es um das Zusammenspiel zwischen Rollen oder eine gemeinsame Policy geht, brauche ich die Rückmeldung des Teams, ob durch die Entscheidung möglicherweise eine neue Spannung entsteht. Dafür nutzen wir den sogenannten "Consent". Das ist eine Form der Entscheidungsfindung, die nicht auf volle Befürwortung angewiesen ist, sondern nur danach fragt, ob es Einwände gibt. Es geht darum, einen Weg zu finden, der möglichst keine neuen Spannungen auslöst.

Wenn ich beim Klettern oben angekommen bin, macht sich ein befreiendes Gefühl breit. Die Spannungen sind gelöst. Ich genieße die Aussicht. Ich bin entspannt und feiere den Erfolg.

Es ist wichtig, auch gemeinsam zu feiern, nachdem wir Spannungen verarbeitet haben. Aber darüber schreibe ich in einem anderen Artikel.


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